Ganz schwach ist sie geworden, mittlerweile benötigt sie für die meisten Handgriffe Unterstützung. Und diese erfolgt natürlich nie genau in dem Moment, in dem sie sie gerne hätte. Für sie als selbständige und erfolgreiche Frau ist dies nur schwer zu ertragen. So stößt sie an die Grenzen ihrer Steuerungsfähigkeit, erlebt schmerzhaft ihre Angewiesenheit. 

Ungeduld und Unruhe quälen sie, das berichtet sie mir sofort, als ich ihr Zimmer betrete.
Während wir das Thema vertiefen, stellt sich heraus, dass noch ein anderes darin verborgen ist: das eigene Sterben nicht steuern zu können: „Ich weiß nicht, wie das geht. Was ist, wenn ich den richtigen Moment verpasse, werde ich dann noch lange leiden müssen?“ 

In ihrer Vorstellung und sicherlich auch Lebenserfahrung sind Leben und Sterben etwas, das nur gut läuft, wenn es gesteuert wird. Ein sehr zeittypisches Konzept. Jedoch, frage ich mich, tragen nicht Leben wie Sterben eine ureigene Dynamik in sich? Wie wäre es, diese zu entdecken und sich ihr anzuvertrauen? 

Mit diesen Gedanken begebe ich mit dieser ihr Lebtag lang kämpferischen und nun so verzweifelten Frau auf die Suche nach Momenten in ihrem Leben, in denen sie vertrauen konnte. Gerne lässt sie sich darauf ein. Es braucht nicht lange und schon bald verändert sich ihr Gesichtsausdruck: sie erzählt von einer Freundin, der sie sich in einer notvollen Phase ihres Lebens anvertraut hat. 

Da ist sie, die Referenzerfahrung, an die wir nun anknüpfen können! Während sie davon berichtet, spürt sie, wie ihr Brustkorb weit wird. Dann fällt ihr auf Nachfrage auch eine Assoziation dazu ein: es ist das Meer. 

Was für ein schönes Bild! Es wird für uns nun zur Metapher für das Leben selbst: die Wellen, die uns entgegenkommen. Wir machen sie nicht selbst, wir können sie nur nehmen. Klug und vertrauensvoll zugleich.

„Irgendwann wird sie kommen, die letzte Welle, die Sie mitnimmt“, male ich das Bild nun weiter aus. Ein seliges Lächeln liegt in ihrem Gesicht: „Das tut gut, danke! Das möchte ich in mir bewahren.“

Wenige Tage später hat die letzte Welle sie erfasst, und als ich nochmals an ihr Bett trete, liegt der Abglanz eines Lächelns in ihrem Gesicht.