Mit leerem Blick schaut sie mich an, kein Wiedererkennen. Aber ich erinnere mich daran, wie klärend beim letzten Mal das Singen auf sie wirkte, und stimme ein Lied an – und sie singt sofort mit. 
Danach fließen die Worte und sie redet: erst vom Lied, dann vom Ehemann, schließlich der Trennung und den Vorwürfen der Tochter danach. „Ich habe solche Sehnsucht nach ihr.“ 30 Jahre kein Kontakt!

Was nun angesichts ihres baldigen Sterbens? Eine Wiederbegegnung organisieren? Aber unter welchem Motto, fragt sie sich. Und findet nur Differenzen: In einer Sekte sei ihre Tochter aktiv seit ihrer Jugend. Und ihr Schmerz, sie dorthin verloren zu haben, reicht tief. Tränen fließen.

Eine Lösung haben wir nicht gefunden, so einfach ist es nicht. Und dennoch ist sie zufrieden und strahlt: „Verstanden zu werden, ist so kostbar.“

Was lehrt sie mich? 
Ihr Schmerz, selbst angesichts ihrer begrenzten Lebenszeit, ist nicht eine Aufforderung an uns, zu handeln. Sondern zuallererst, sie zu verstehen. Nicht Lösungen anzubieten, sondern Komplexität zu erkunden. 
Und indem sie sich verstanden fühlt, kann sie vielleicht sich selbst besser verstehen und möglicherweise Klarheit zum Handeln finden.