Vor zehn Tagen noch konnten wir miteinander Gespräche führen, in welchen sie letzte offene Themen zur Sprache brachte und Lösungen entwickelte. Seit wenigen Tagen wird ihr Gang unsicher, verwechselt sie Handgriffe beim Anziehen, weiß nicht mehr, wo ihr Zimmer ist. Auch ihre Sprache verliert sich, sie vergisst, was sie zuvor gesagt hatte und bleibt in Wiederholungen hängen.
Dabei ist sie noch so jung, erst Mitte 50. Doch der Hirntumor mit seinen Begleiterscheinungen schreitet voran.
Bewundernswert gelassen ging sie bisher mit ihrer Lebenssituation um. Doch die Herausforderungen, mit denen sie zu tun hat, nehmen zu. 

Wie kann ich sie gut darin begleiten, sie so ansprechen und erreichen, dass das Miteinander für sie sinnvoll wird und hilfreiche Spuren hinterlässt? 

Gespräche, so wie wir sie bisher miteinander geführt hatten, sind nicht mehr möglich. Also beginne ich, nach neuen Wegen zu suchen, nehme heute das Monochord, ein einfaches Saiteninstrument, mit.
Dösend liegt sie auf ihrem Bett, ist noch nicht ganz wach, freut sich aber über meinen Besuch. So beginne ich, das Instrument zu streichen, ihm diesen einzigartigen Ton zu entlocken. Das weckt ihr Interesse, und wir vertiefen uns gemeinsam in diese Klangwelt. Ich streiche das Instrument und sie sucht nach Beschreibungen: „Der Ton ist irgendwie weit weg und doch ganz nah“, sagt sie. Später dann: „Das ist ein Ton, der weiterträgt. Er ist stark, obwohl er zart ist.“ Auch eine Farbe finden wir, orange, und ich ergänze fragend, „wie der Sonnenuntergang?“ Da nickt sie. 
Eine ganz eigene Welt tut sich auf, voller erfahrener Bedeutungen, tiefgründig und beglückend, Davon spricht ihr Lächeln in dem sonst so ausdruckslos gewordenen Gesicht.

Wenn Denken und Handeln schwerfallen, bleibt immer noch das Erleben, bleiben Assoziationen und Gefühle, die das Dasein erweitern, bereichern und erfüllen können.